Sonntag, August 25, 2013

Filmszenen I Bemerkungen zu " Ein Lidschlag - ein Schnitt" Die Kunst der Filmmontage. Walter Murch, Alexanderverlag, Berlin, 2004

Zu: Walter Murch: Ein Lidschlag, Ein Schnitt. Die Kunst der Film-Montage. Alexander, Berlin  2004
Zitat Anfang: „Tatsache ist, dass (..) jeder (..) Kinofilm aus vielen verschiedenen Filmstücken besteht, die [entlang einer Timeline] zu einem Bildermosaik zusammengefügt werden. Das Geheimnis dabei aber ist, dass das Zusammenfügen dieser Einzelteile tatsächlich zu funktionieren scheint, obwohl es bedeutet, ein Blickfeld augenblicklich und vollständig durch ein anderes zu ersetzen, wobei  Ersetzen manchmal auch Sprünge vor und zurück in Zeit und Raum bedeuten kann.
Das alles funktioniert; aber es hätte leicht auch anders sein können, denn nichts in unserer Alltagserfahrung scheint uns darauf vorzubereiten. Vielmehr nehmen wir die visuelle Realität von dem Moment an, an dem wir morgens aufwachen, bis zu dem Augenblick, an dem wir abends die Augen schließen, als ununterbrochenen Strom miteinander verknüpfter Bilder wahr.  Unter diesen Umständen wäre es ganz und gar nicht überraschend gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, daß unser Gehirn durch Evolution und Erfahrung so „verdrahtet“ ist, dass es sich dem Filmschnitt widersetzt.  Murch, 2004, ebd. , S. 19
„Sogar wenn […] der Kopf nicht bewegt wird, ist der Lidschlag entweder etwas, was die innerliche Trennung der Gedanken unterstützt, oder ein unwillkürlicher Reflex, der die vor sich gehende mentale Trennung begleitet.“ (Dr. John  Stern , University St. Louis, Studie über die Psycho-Physiologie des Lidschlages 1987.)
„Und nicht nur die Häufigkeit des Blinzelns ist von Bedeutung, sondern auch der tatsächliche Zeitpunkt des Blinzelns selbst.“ Murch, 2004, ebd., S. 61
„Wir haben einen Gedanken oder eine Abfolge miteinander verbundener Gedanken, und wir blinzeln, um diese Gedankenkette von dem, was folgt , zu trennen und zu interpunktieren. Genauso liefert uns in einem film jede einzelne Einstllung eine Idee oder eine Abfolge von ideen, und der Schnitt ist der „Lidschlag“, der diese Ideen trennt und interpunktiert.  (Das gilt unabhängig davon, wie bedeutend oder unbedeutend die „Idee“ ist. Sie kann beispielsweise so simpel sein, wie „sie macht eine schnelle Bewegung nach links“. ) In dem Moment, wo man sich entschließt, einen Schnitt vorzunehmen, sagt man im Grunde: „Diese Idee will ich jetzt beenden und dafür mit etwas Neuem beginnen. Murch, 2004, ebd., S. 61
„Auf jeden Fall glaub ich, daß „filmisches“ Nebeneinanderstellen zusammenhangloser Bilder im richtigen Leben nicht nur stattfindet, wenn wir träumen, sondern auch , wenn wir wach sind. Murch, 2004, ebd., S. 62 Zitat Ende

Murch´s Beobachtung, dass jeder Schnitt einem Lidschlag entspricht, quasi, um den kontinuierlichen Strom des Gesehenen zu interpunktieren, hilft seiner logischen Argumentation „ein Lidschlag – ein Schnitt.“ 

Genaue Beobachtung des psychophysiologischen Aspekts des Sehens hat m.E. folgende Ergebnisse:

1.       Würde jeder Schnitt einem Lidschlag entsprechen, müssten schnellste Schnitt-Folgen, wie sie beispielsweise in Trailern zu sehen sind,  http://www.youtube.com/watch?v=T6DJcgm3wNY  von einem maschinengewehr-artigen Blinzeln begleitet sein.
2.       Die Lidschlag – Häufigkeit hängt direkt proportional mit unserem Aufmerksamkeits – oder Erregungsstatus zusammen. Sie steigt mit steigender Erregung, kann bei großer Wut, wenn wir den Gegner fixieren, auch längere Zeit ausbleiben. Die Lidschlag-Häufigkeit wechselt, je nach Aufmerksamkeits-Status zwischen 4 und 50 Schlägen pro Minute.
3.       Genaueste Beobachtung des Sehvorgangs zeigt zwei Dinge:  a. richten wir beispielsweise unseren Blick nach links auf einen Baum vor unserem Fenster (Blick 1) und anschließend auf das Haus rechts im Nachbargarten (Blick 2) vor unserem Fenster, haben beide Bildausschnitte keinerlei, wirklich keinerlei Anschluss, keine Verbindung.  Trotzdem wissen wir, dass Baum und Haus demselben Blick aus unserem Fenster angehören. Wie kann das sein?
4.       Die Lösung ergibt sich aus der Kombination der Bildverarbeitung eines Blickes, wenn unser Auge still steht, - der Bildverarbeitung während der Augenbewegung - und der Bildverarbeitung im Gehirn nach Beendigung der Bewegung, wenn wir das neue Objekt ins Auge gefasst haben. Unser Auge bewegt sich ruckhaft, es gleitet nicht. Das heißt Auge steht still: Blick 1,-  blitzschneller Ruck der Pupille mit Drehung des Augapfels, - Blick 2 Auge steht still.
5.       Subjektiv nehmen wir keinen Bildeindruck während des Rucks mit Drehung des Augapfels auf.  Das heißt, unsere Wahrnehmung registriert nur Bild 1 und Bild 2. Dazwischen ist ein – „Schnitt“ , die Ähnlichkeit mit dem Filmschnitt ist selbst erklärend. Der Filmschnitt imitiert die psychophysiologische Realitäts-Wahrnehmung durch Augenbewegungen.
Probe auf´s Exempel: Filme kennen Reiss-Schwenks. Die Kamera wird von Punkt A (Bild 1) zu Punkt B (Bild 2) in einer reissenden Bewegung schnell herumgeschwenkt. Obwohl wir A und B klar und scharf sehen, erkennen wir während des Reiss-Schwenks in der Bewegung nur horizontale Streifen. Das weiter aufzeichnende Film-Material zeigt uns, was unser Bewußtsein beim Reiss-Schwenk der blitzschnellen Pupillenbewegung ausblendet. Würde unser Gehirn das nicht tun, sähen wir in beständigem Wechsel Bild, horizontale unscharfe Strich-Bänder währed der Augenbewegung und wieder ein scharfes, still stehendes Bild.
6.       Wie, so stellt sich die Frage, nehmen wir dann aber Baum und Haus als kontinuierliche Realität wahr, als Raumkontinuum? Unsere Antwort: Sehen und Raumlage-Sinn unterstützt vom Muskeltonus-Sinn wechseln sich beim Sehen in rasendem Tempo ab.  Im Moment, in dem unser Gehirn die Bildverarbeitung während der blitzschnellen Augenbewegung abschaltet, übernimmt der Gleichgewichts-Sinn , der Vestibular-Apparat  http://de.wikipedia.org/wiki/Gleichgewichtsorgan  und meldet uns: Während der Augenbewegung keine, eine kleine, mittlere, größere Bewegung unseres eigenen Körpers im Raum.
7.       Probe: Menschen die blind geboren sind und als Erwachsene / Jugendliche durch Operation ihren Gesichts-Sinn erhalten, können mit den Bilddaten überhaupt nichts anfangen. Warum? Das Gehirn lernt in den ersten drei Lebensjahren durch tägliches Training, die visuellen Eindrücke in Relation zum eigenen Körper zu bringen, insbesondere die Zentralperspektive.  Das heißt  eine Kombination aus Raumlage-Sinn und Seh-Training seit Geburt ermöglicht uns das visuelle Verständnis eines Raum-Kontinuums, obwohl unsere einzelnen Blicke uns Bilder liefern, die meistens inhaltlich vollständig diskontinuierlich sind.
8.       Zweite Probe: Raumlage-Sinn und visueller Eindruck. Es gibt – in Disney-Land – Erlebniskinos mit großer Leinwand und: beweglichen Sitzreihen. Während einer rasenden Achterbahnfahrt auf der Leinwand bewegen sich die Kinosessel links rechts, Vor- Rückneigung dem visuellen Eindruck entsprechend mit. Warum wird ein so großer Aufwand betrieben, Film und Kinosessel zu einem Gesamteindruck zusammenzubringen?  Um einen beeindruckenden Grad an Realismus des Gesehenen zu erreichen. Sehsinn und Vestibular-Apparat sind eng gekoppelt.

Conclusio: Nicht, wie Murch erklärt, ist das Äquivalent zum Schnitt nur der Lidschlag, der geistige Interpunktionen in den Fluss der Bilder setzt, sondern die Augenbewegung selbst ist der „Schnitt“ . In rasend schnellen Wechseln können so Bilder aufeinander folgen, da wir sie im Gehirn als schnelles Hin- und Herblicken psychophysiologisch verarbeiten.
9.       Zeit- und Raumsprünge begreifen wir über den Bildinhalt und über erworbene Medienkompetenz. Bereits als kleine Kinder werden wir mit dem Phänomen des Bildschnittes im Fernsehen und in Kinderfilmen vertraut gemacht, wir erlernen die Bedeutung des Schnittes als möglichen Wechsel in Raum und Zeit zu interpretieren. 

10.   Der Zoom, Wechsel zwischen Totale und Nahaufnahme. Warum begreifen wir einen Sprung in der Einstellungsgröße auf Nahaufnahme als trotzdem im selben Raumkontinuum befindlich?

Auch hier hilft die genaue Beobachtung des psychophysiologischen Aspekts im Seh-Vorgang:  jeder kennt die Urlaubsfotos, auf denen eine Landschaft zu sehen ist und ganz hinten ein paar dunkle Punkte. Wir nehmen für unsere Darlegung an, die Aufnahmen wurden mit Normalobjektiv, also 1: 50 mm gemacht. Der Autor der Photos wird sie uns ganz begeistert zeigen und sie als schöne Fotos eines Rudels Rehe am Waldrand deklarieren.
Wir hingegen,  die diese Fotos als einzige Nachricht über das Rudel Rehe sehen, erkennen vor allem Landschaft und ganz kleine braune Punkte in der Bildmitte. Wie ist diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zwischen dem Bildautor und uns, den Bild-Rezipienten, zu erklären?  Unser Gehirn nimmt bei Dingen, die uns interessiern, die wir ins Auge fassen, z.B . dort hinten den schönen Kirchturm am Horizont mit den roten Dächern des Dorfes einen psychophysiologischen Zoom vor.

Unsere Aufmerksamkeit allokiert im Gehirn so viel Verarbeitungskapazität auf den interessanten Gegenstand, dass wir ihn subjektiv wesentlich größer wahrnehmen, als er von unserem Standpunkt gesehen, bei desinteressiert schweifendem Blick wahrgenommen würde. Der Schnitt auf das Close Up, die Nahaufnahme, geschieht in unserem Gehirn durch Aufmerksamkeit. (Gleichzeitig fallen alle umgebenden Bildeindrücke in der Qualität so stark ab, dass unser Gehirn sie wie in einer abblendenden Wischblende vernachlässigt. Der Bildausschnitt wirkt für uns subjektiv kleiner.)

 Wieder imitiert der Filmschnitt Totale- Close up einen psychophysiologisch defaultmäßig ablaufenden Sehvorgang.


Probieren Sie´s einfach mal selber aus!  Sie werden staunen!