Zu:
Walter Murch: Ein
Lidschlag, Ein Schnitt. Die Kunst der Film-Montage. Alexander, Berlin 2004
Zitat Anfang: „Tatsache ist, dass (..)
jeder (..) Kinofilm aus vielen verschiedenen Filmstücken besteht, die [entlang
einer Timeline] zu einem Bildermosaik zusammengefügt werden. Das Geheimnis
dabei aber ist, dass das Zusammenfügen dieser Einzelteile tatsächlich zu funktionieren
scheint, obwohl es bedeutet, ein Blickfeld augenblicklich und vollständig durch
ein anderes zu ersetzen, wobei Ersetzen
manchmal auch Sprünge vor und zurück in Zeit und Raum bedeuten kann.
Das alles funktioniert;
aber es hätte leicht auch anders sein können, denn nichts in unserer
Alltagserfahrung scheint uns darauf vorzubereiten. Vielmehr nehmen wir die
visuelle Realität von dem Moment an, an dem wir morgens aufwachen, bis zu dem
Augenblick, an dem wir abends die Augen schließen, als ununterbrochenen Strom
miteinander verknüpfter Bilder wahr.
Unter diesen Umständen wäre es ganz und gar nicht überraschend gewesen,
wenn sich herausgestellt hätte, daß unser Gehirn durch Evolution und Erfahrung
so „verdrahtet“ ist, dass es sich dem Filmschnitt widersetzt. Murch, 2004, ebd. , S. 19
„Sogar wenn […] der Kopf
nicht bewegt wird, ist der Lidschlag entweder etwas, was die innerliche Trennung
der Gedanken unterstützt, oder ein unwillkürlicher Reflex, der die vor sich
gehende mentale Trennung begleitet.“ (Dr. John
Stern , University St. Louis, Studie über die Psycho-Physiologie des Lidschlages 1987.)
„Und nicht nur die Häufigkeit
des Blinzelns ist von Bedeutung, sondern auch der tatsächliche Zeitpunkt des
Blinzelns selbst.“ Murch, 2004, ebd., S. 61
„Wir haben einen Gedanken
oder eine Abfolge miteinander verbundener Gedanken, und wir blinzeln, um diese
Gedankenkette von dem, was folgt , zu trennen und zu interpunktieren. Genauso
liefert uns in einem film jede einzelne Einstllung eine Idee oder eine Abfolge
von ideen, und der Schnitt ist der „Lidschlag“, der diese Ideen trennt und
interpunktiert. (Das gilt unabhängig
davon, wie bedeutend oder unbedeutend die „Idee“ ist. Sie kann beispielsweise
so simpel sein, wie „sie macht eine schnelle Bewegung nach links“. ) In dem
Moment, wo man sich entschließt, einen Schnitt vorzunehmen, sagt man im Grunde:
„Diese Idee will ich jetzt beenden und dafür mit etwas Neuem beginnen. Murch, 2004, ebd., S. 61
„Auf jeden Fall glaub
ich, daß „filmisches“ Nebeneinanderstellen zusammenhangloser Bilder im
richtigen Leben nicht nur stattfindet, wenn wir träumen, sondern auch , wenn
wir wach sind. Murch, 2004, ebd., S. 62 Zitat Ende
Murch´s Beobachtung, dass
jeder Schnitt einem Lidschlag entspricht, quasi, um den kontinuierlichen Strom
des Gesehenen zu interpunktieren, hilft seiner logischen Argumentation „ein
Lidschlag – ein Schnitt.“
Genaue Beobachtung des
psychophysiologischen Aspekts des Sehens hat m.E. folgende Ergebnisse:
1.
Würde jeder
Schnitt einem Lidschlag entsprechen, müssten schnellste Schnitt-Folgen, wie sie
beispielsweise in Trailern zu sehen sind,
http://www.youtube.com/watch?v=T6DJcgm3wNY von einem
maschinengewehr-artigen Blinzeln begleitet sein.
2.
Die Lidschlag
– Häufigkeit hängt direkt proportional mit unserem Aufmerksamkeits – oder Erregungsstatus
zusammen. Sie steigt mit steigender Erregung, kann bei großer Wut, wenn wir den
Gegner fixieren, auch längere Zeit ausbleiben. Die Lidschlag-Häufigkeit
wechselt, je nach Aufmerksamkeits-Status zwischen 4 und 50 Schlägen pro Minute.
3.
Genaueste
Beobachtung des Sehvorgangs zeigt zwei Dinge:
a. richten wir beispielsweise unseren Blick nach links auf einen Baum
vor unserem Fenster (Blick 1) und anschließend auf das Haus rechts im
Nachbargarten (Blick 2) vor unserem Fenster, haben beide Bildausschnitte
keinerlei, wirklich keinerlei Anschluss, keine Verbindung. Trotzdem wissen wir, dass Baum und Haus
demselben Blick aus unserem Fenster angehören. Wie kann das sein?
4.
Die Lösung
ergibt sich aus der Kombination der Bildverarbeitung eines Blickes, wenn unser
Auge still steht, - der Bildverarbeitung während der Augenbewegung - und der
Bildverarbeitung im Gehirn nach Beendigung der Bewegung, wenn wir das neue
Objekt ins Auge gefasst haben. Unser Auge bewegt sich ruckhaft, es gleitet
nicht. Das heißt Auge steht still: Blick 1,- blitzschneller Ruck der Pupille mit Drehung des
Augapfels, - Blick 2 Auge steht still.
5.
Subjektiv nehmen
wir keinen Bildeindruck während des Rucks mit Drehung des Augapfels auf. Das heißt, unsere Wahrnehmung registriert nur
Bild 1 und Bild 2. Dazwischen ist ein – „Schnitt“ , die Ähnlichkeit mit dem
Filmschnitt ist selbst erklärend. Der Filmschnitt imitiert die
psychophysiologische Realitäts-Wahrnehmung durch Augenbewegungen.
Probe auf´s
Exempel: Filme kennen Reiss-Schwenks. Die Kamera wird von Punkt A (Bild 1) zu
Punkt B (Bild 2) in einer reissenden Bewegung schnell herumgeschwenkt. Obwohl wir
A und B klar und scharf sehen, erkennen wir während des Reiss-Schwenks in der
Bewegung nur horizontale Streifen. Das weiter aufzeichnende Film-Material zeigt
uns, was unser Bewußtsein beim Reiss-Schwenk der blitzschnellen
Pupillenbewegung ausblendet. Würde unser Gehirn das nicht tun, sähen wir in
beständigem Wechsel Bild, horizontale unscharfe Strich-Bänder währed der
Augenbewegung und wieder ein scharfes, still stehendes Bild.
6.
Wie, so
stellt sich die Frage, nehmen wir dann aber Baum und Haus als kontinuierliche
Realität wahr, als Raumkontinuum? Unsere Antwort: Sehen und Raumlage-Sinn unterstützt
vom Muskeltonus-Sinn wechseln sich beim Sehen in rasendem Tempo ab. Im Moment, in dem unser Gehirn die Bildverarbeitung
während der blitzschnellen Augenbewegung abschaltet, übernimmt der
Gleichgewichts-Sinn , der Vestibular-Apparat
http://de.wikipedia.org/wiki/Gleichgewichtsorgan und
meldet uns: Während der Augenbewegung keine, eine kleine, mittlere, größere
Bewegung unseres eigenen Körpers im Raum.
7.
Probe:
Menschen die blind geboren sind und als Erwachsene / Jugendliche durch
Operation ihren Gesichts-Sinn erhalten, können mit den Bilddaten überhaupt nichts
anfangen. Warum? Das Gehirn lernt in den ersten drei Lebensjahren durch
tägliches Training, die visuellen Eindrücke in Relation zum eigenen Körper zu
bringen, insbesondere die Zentralperspektive. Das heißt
eine Kombination aus Raumlage-Sinn und Seh-Training seit Geburt ermöglicht
uns das visuelle Verständnis eines Raum-Kontinuums, obwohl unsere einzelnen
Blicke uns Bilder liefern, die meistens inhaltlich vollständig
diskontinuierlich sind.
8.
Zweite Probe:
Raumlage-Sinn und visueller Eindruck. Es gibt – in Disney-Land – Erlebniskinos mit
großer Leinwand und: beweglichen Sitzreihen. Während einer rasenden
Achterbahnfahrt auf der Leinwand bewegen sich die Kinosessel links rechts, Vor-
Rückneigung dem visuellen Eindruck entsprechend mit. Warum wird ein so großer
Aufwand betrieben, Film und Kinosessel zu einem Gesamteindruck zusammenzubringen? Um einen beeindruckenden Grad an Realismus
des Gesehenen zu erreichen. Sehsinn und Vestibular-Apparat sind eng gekoppelt.
Conclusio: Nicht, wie
Murch erklärt, ist das Äquivalent zum Schnitt nur der Lidschlag, der geistige
Interpunktionen in den Fluss der Bilder setzt, sondern die Augenbewegung selbst
ist der „Schnitt“ . In rasend schnellen Wechseln können so Bilder aufeinander
folgen, da wir sie im Gehirn als schnelles Hin- und Herblicken psychophysiologisch
verarbeiten.
9.
Zeit- und
Raumsprünge begreifen wir über den Bildinhalt und über erworbene
Medienkompetenz. Bereits als kleine Kinder werden wir mit dem Phänomen des
Bildschnittes im Fernsehen und in Kinderfilmen vertraut gemacht, wir erlernen
die Bedeutung des Schnittes als möglichen Wechsel in Raum und Zeit zu
interpretieren.
10.
Der Zoom,
Wechsel zwischen Totale und Nahaufnahme. Warum begreifen wir einen Sprung in
der Einstellungsgröße auf Nahaufnahme als trotzdem im selben Raumkontinuum
befindlich?
Auch hier hilft die genaue Beobachtung des psychophysiologischen Aspekts im
Seh-Vorgang: jeder kennt die
Urlaubsfotos, auf denen eine Landschaft zu sehen ist und ganz hinten ein paar
dunkle Punkte. Wir nehmen für unsere Darlegung an, die Aufnahmen wurden mit
Normalobjektiv, also 1: 50 mm gemacht. Der Autor der Photos wird sie uns ganz
begeistert zeigen und sie als schöne Fotos eines Rudels Rehe am Waldrand
deklarieren.
Wir hingegen, die diese Fotos als einzige Nachricht über
das Rudel Rehe sehen, erkennen vor allem Landschaft und ganz kleine braune
Punkte in der Bildmitte. Wie ist diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zwischen
dem Bildautor und uns, den Bild-Rezipienten, zu erklären? Unser Gehirn nimmt bei Dingen, die uns
interessiern, die wir ins Auge fassen, z.B . dort hinten den schönen Kirchturm
am Horizont mit den roten Dächern des Dorfes einen psychophysiologischen Zoom
vor.
Unsere Aufmerksamkeit allokiert im
Gehirn so viel Verarbeitungskapazität auf den interessanten Gegenstand, dass
wir ihn subjektiv wesentlich größer wahrnehmen, als er von unserem Standpunkt
gesehen, bei desinteressiert schweifendem Blick wahrgenommen würde. Der Schnitt
auf das Close Up, die Nahaufnahme, geschieht in unserem Gehirn durch
Aufmerksamkeit. (Gleichzeitig fallen alle umgebenden Bildeindrücke in der
Qualität so stark ab, dass unser Gehirn sie wie in einer abblendenden
Wischblende vernachlässigt. Der Bildausschnitt wirkt für uns subjektiv kleiner.)
Wieder imitiert der Filmschnitt Totale- Close up
einen psychophysiologisch defaultmäßig ablaufenden Sehvorgang.
Probieren
Sie´s einfach mal selber aus! Sie werden
staunen!
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