Mittwoch, September 07, 2005

"So jung und schon Ärztin... "aus: Der Schutzengel. TV-Film. Regie: Uwe Janson, Drehbuch Susanne Mustacich, 1997






Bildquelle und Bildrechte bei Paramount Pictures 2000



"So jung und schon Ärztin... "aus: Der Schutzengel. TV-Film. Regie: Uwe Janson, Drehbuch Susanne Mustacich, 1997



Text: ignazwrobel

Das Urteil lautet...Das Urteil lautet Schuldunfähigkeit wegen Abartigkeit und explizit sexualpathologischen Verhaltens.



Dr. Alexandra Strauss und Dr. Maria Fender, die Neue, sind auf dem Weg zu einer Therapiestunde. Dr. Strauss informiert Dr. Fender im Gehen über die Diagnose des Patienten, den beide gleich sehen werden.

Es ist Marc Bittner.

Der Patient bekommt Valium und ein zweites schweres Beruhigungsmittel.

Nebenwirkungen. Erbrechen, Müdigkeit und Sprachstörungen.

Jedes Wort, das wir jetzt von Dr. Strauss hören, ist wichtig, wir wissen es nur noch nicht und nehmen es nicht so ernst.

Die beiden Frauen laufen durch Gefängnisgänge, Dr. Strauss voraus, sie sieht Dr. Fender während des Sprechens nicht an, es besteht kein kollegialer vertrauensvoller Kontakt.

Das Eintippen von PINs in Code-Pads öffnet die Gitterstab-Türen.

Dabei hören wir ein markdurchdringendes Summgeräusch, das an einen Zahnarztbohrer erinnert und im Film leitmotivisch immer wiederkehrt.

Die Gänge sind so dunkel, dass man die beiden kaum sieht, ihre weissen Ärztekittel leuchten im Dunkeln ein wenig auf.

Bittner hat fünf Frauen ermordet, er ist hochintelligent, ein guter Simulant. Fassen Sie ihn nicht an, erzählen Sie ihm nichts Persönliches und gehen Sie nicht ohne Begleitung zu ihm. Sie sitzen links von mir.

Dr. Strauss trägt das ganze in einem schnellen, kalten, unbeteiligten Ton vor, so dass wir wieder geneigt sind, sie und das von ihr Gesagte abzulehnen.

Ein Tierdompteur, der den Dompteurnachwuchs zum ersten Mal mit in den Käfig nimmt, klänge vielleicht ähnlich. Bittner wird wie ein gefährliches Vieh geschildert, das im Umgang besondere Verhaltensmassnahmen erfordert.

Gittertüren öffnen sich, fahren wieder zu, mit lautem unangenehmen Geräusch. Alles Beton, völlig kahl, unglaublich hässlich, die Farbe graubraun dominiert.

Die Zelle, in der das Therapiegespräch stattfindet, hat, ganz genauso wie Tierkäfige im Zoo, eine wandgrosse Glasscheibe auf der Zugangsseite, durch die man „das Vieh“ beobachten kann.

Glasbausteine, Ausbund an Hässlichkeit, an der Rückwand, ein quadratischer Tisch, vier unbequeme ungepolsterte Stühle.


Wir bekommen aus der Vogelperspektive einen Überblicksreport über die Situation. Von oben sehen wir einen Mann am Tisch sitzen, der Glasscheibe gegenüber , der Kopf gesenkt, die Hände ruhen auf den Oberschenkeln, gefaltet. Eigenartig.

Schnitt.

Die Szene von der Seite.

Dr. Strauss stellt Bittner seine Medizin hin.

Wir erhalten sofort eine Vorstellung von der Wirkung der Sedativa. Bittners Griff zu den Tabletten ist zeitlupenartig langsam. Er sitzt zusammengesunken da, die Schultern sind nach vorne gefallen. Er wirkt völlig ungefährlich.


Da, seine Stimme!

Sehr erfreut Sie kennenzulernen, Dr. Fender.


So jung und schon Ärztin.


Die junge Stimme ist weich, bescheiden, passt zur Körperhaltung, einschmeichelnd gleichzeitig, er redet, als hätte er Schnupfen. (Die Nachwirkung des Schlages auf seine Nase. Verschnupftes Sprechen ist aber auch oft ein Zeichen zurückgehaltener Aggression. Der Zuschauer weiss das jedoch noch nicht explizit.)

Bittner ist überkorrekt zuerst, dann dringt er sofort in Persönliches ein.

So jung und schon Ärztin..

Dr. Fenders zeigt mit ihrer geschmeichelten Reaktion Bittner bereits eine offene Flanke.

Er hat Gelegenheit, Einblick in Dr. Fenders psychische Verfasstheit zu nehmen.

Sie ist unerfahren. Leichtgläubig. Offen. Sie lächelt. 1:0 für Bittner. All das verstehen wir noch nicht bewusst.

Dr. Strauss: Wie geht es Ihnen heute?

Was glauben Sie, wie man sich fühlt, wenn man als P... Punchingball benutzt wurde.

Bittners Stimme ist leise, geringe Energie, wenig Druck ist fühlbar.

Was ist, was war das? Was war das für ein Zögern? Stottert der Mensch etwa? Wir erinnern uns an Dr. Strauss Erklärung. Die Sedativa rufen Sprachstörungen hervor.

Schnitt.

Wir sehen von draussen auf dem Bildschirm, dass die Zelle videoüberwacht ist. Von Mikrophonstörungen durchkreuzt, hören wir Bittner sagen wissen sie -unter uns- es ist nicht notwendig gewesen, mir diese Pferdespritze zu verpassen.

...Finden wir auch, wir haben Mitleid mit dem zarten Mann, der da so bescheiden und passiv dasitzt.

Sie schienen mir irgendwie überreizt zu sein. Wie haben Sie geschlafen, irgendwelche Alpträume? Bittners Stimme ist bei seiner Antwort ganz ausgeglichen, ruhig, als er völlig fließend antwortet

Ich habe keine Alpträume.

In diesem Ton liegt irgendetwas, was aufhorchen läßt.

Er scheint hundertprozentig wach, völlig klar im Kopf.

Das passt nicht zu der sedierten Wirkung vom Anfang. Es ist nur ein Hauch, deshalb übersehen wir das ganz gerne.

Gro... Grosses Pf.. adfinderehrenwort.... Doktor.

Bittner hebt zwei Schwurfinger.

Eine Geste, die ebenfalls leitmotivisch später wiederkehrt.

Er hat die Sprachebene gewechselt, er spielt einen Jungen, nicht ganz ernst, ironisch.

Nahaufnahme auf Dr. Fender. Sie schaut nach unten, scheint zu grübeln.

Bittner wirkt resigniert, Dr. Strauss redet ganz ruhig und sachlich, völlig erwachsen, als Bittner Mitleid heischt.

Si.. sind Sie so gut...d..darin ..depressive Seelen zu retten?

Dr. Strauss ist von einer für uns unverständlichen Härte.

Da sie keine Seele besitzen, die ich retten könnte, ist dieses Argument gegenstandslos, meinen sie nicht.

Uns dreht sich langsam der Magen um, wie kann man nur so hart sein.

Wir sehen Dr. Fender, wie sie immer verkrampfter zwischen Bittner und Strauss hin und hersieht. Zusammen mit ihr plädieren wir innerlich für Bittner und gegen die harte Frau.

Wir sind so naiv wie Dr. Fender.

Wir wissen noch nicht, dass zwischen Ärztin und Patient ein knallharter intellektueller Kampf abläuft, bei dem Bittner sein ganzes beachtliches, schauspielerisches Können, - wie wir vorher gehört haben, ist er ein hervorragender Simulant, - einsetzt, um Strauss weichzuklopfen und gleichzeitig Fender auf Schwächen abzutasten.

Erzählen sie mir lieber weswegen sie gestern Arnold provoziert haben.

Nahaufnahme Bittner.

Der schüttelt knapp den Kopf, wiegelt ab, sein Gesicht sieht traurig und schwach aus.

I..ich h h h habe ich habe.. nur .. versucht... d... d d d d dem Wärter das...L L L ..Leben zu retten.i..ich h h. Habe n n.. niemandem w... wehgetan.

Weil sie keine Gelegenheit dazu hatten.


O mein Gott, nein, lass diese Alptraumszene aufhören, ist das eine Quälerei, diese Ärztin quält den Mann, er stottert jetzt so sehr, dass wir langsam ungeduldig werden.

Ein strafender Blick von Dr. Fender zu Dr. Strauss.

Bittner senkt plötzlich den Kopf und macht irgend etwas.

Als er ihn hebt, hat der die Fiole mit den Medikamenten wie ein Fläschchen an den Lippen angesetzt, er hält die Fiole mit dem Mund fest, ohne die Hände zu gebrauchen, legt den Kopf in den Nacken, schluckt alles und läßt die Fiole fallen.

Er bleibt in dieser Stellung. Eigenartig.

Er bietet uns, wie ein unterlegener Hund, seine verletzlichste Stelle, seine Kehle, offen dar.

Irritierend.

Der Text passt dazu: ..S. sie l l lassen nicht locker, was.. D... Doktor Strauss..

Er erinnert sich nicht, sagt er, welchen Frauen er wehgetan haben soll.

Very Close up, immer noch.

Bittner hört langsam mit der überstreckten Kopfhaltung auf, sein Gesicht rückt ins Bild. Sein Blick streift von der Decke mit sich langsam halb schließenden Augen herunter auf Dr. Strauss;

der Kopf senkt sich weiter, er öffnet die Augen weit, sein Blick schießt einen Moment lang von schräg unten auf das Gegenüber, bevor er den Mund schließt.

Himmel hilf. Wurks. Schluck.

Uns beschleicht ein sehr, sehr ungutes Gefühl von immanenter Gefährlichkeit.

Da sind im Hintergrund Messer gezückt, Gedanken gedacht, die Gänsehaut erzeugen.

Im Ausdruck dieser schwarzen Augen öffnet sich ein Abgrund.

Ein lautes Geräusch, Ende der Szene.


Kommentar:

Diese Szene ist die äusserst präzise Exposition zu einem dicht erzählten spannenden Handlungsverlauf, der ungebremst in eine Katastrophe führt. Bittners Psyche ist eine Pandorabüchse und Dr. Fender wird nicht widerstehen können, sie zu öffnen. Sie verhilft Bittner zur Flucht.

Heino Ferch wird in den nächsten 90 Minuten vor unserem staunenden Auge in der Figur Bittners ein Portfolio von blitzartig wechselnden Persönlichkeitsfacetten ausbreiten, die vom völlig hilflosen Kind über den leicht schüchternen Stotterer, den Tobsüchtigen, den geschmeidigen Verführer bis zum größenwahnsinnigen Intellektuellen reichen.

Mit- und hinreissend porträtiert er eine messerscharf analysierende hinterhältige tückische Psyche. Die nachlassende Medikamentenwirkung, -markiert durch graduell nachlassende Sprachstörung,- enthüllt zunehmend Bittners sadistische Fixierung.

Der Film ist m.E. in allen Aspekten gelungen, Buch, Dialoge, Regie, Szenen, Licht, Musik, Erzähltempo, Spannungskurve, alles passt.

Die Handlung ist mit Leitmotiven und der closed loop Erzählform perfekt durchkomponiert.

(Parabel: Eine Frosch und ein Skorpion wollen den Fluss überqueren. Der Frosch bietet dem Skorpion an, ihn auf seinem Rücken mit hinüberzunehmen. Mitten auf dem Fluss sticht der Skorpion den Frosch. Warum hast Du das mich gestochen, fragt das sterbende Tier, jetzt müssen wir beide zu Grunde gehen. Die Antwort des Skorpion : Weil es meine Natur ist.)


Marc Bittner - Heino Ferch 1997