Freitag, September 21, 2007

Filmszenen I ...ich hab´ kein´ Bruder....in: Der Tunnel. Heino Ferch - Harry Melchior. Buch: Johannes W. Betz, Regie: Roland S. Richter, 2000-2001




Bildquelle und Bildrechte bei teamworx Filmproduktionsgesellschaft für SAT.1

Fritzi (traurig): "..ich hab´kein´Bruder..." (Pause) "Harry (tröstend):..Bruder macht viel Arbeit!" in: Der Tunnel.
Heino Ferch - Harry Melchior. Buch: Johannes W. Betz,
Regie: Roland S. Richter, 2000-2001


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Vor der Szene.

Abend. Die alte Etagenwohnung von Mutter und Tochter Scholz in Berlin West. Fritzi Scholz, die als einzige Frau unter den Männern beim Tunnelbau unter der Berliner Mauer hindurch nach Berlin Ost mitgräbt – sie will ihren Verlobten, Heiner, zu sich in den Westen holen – kommt nach anstrengender Tagschicht nach Hause.

Küche. Fritzi kommt herein. Die Beleuchtung ist eigenartig. Das Deckenlicht ist ausgeschaltet, aber der Wasserkessel steht bei voller Gasflamme auf dem Herd.

Fritzi: Mama?

Fritzi will den Kessel vom Feuer nehmen, verbrennt sich fast die Finger am Bügelgriff. Der Kessel ist überhitzt, alles Wasser längst verdampft. Fritzi dreht das Gas ab.

Sie spürt, dass sie hier etwas erwartet, was sie nicht wahr haben will.

Leiser, noch einmal:

Mama?

Sie macht ein paar Schritte auf uns zu, zum Durchgang ins Wohnzimmer. Sie erblickt etwas, bleibt ruckartig stehen. Wir ahnen, - wir wissen, was passiert ist. Frau Scholz kann nicht antworten.

Sie wird nie wieder antworten.

Das Herz. Ihr Herz hat aufgehört, zu schlagen. Frau Scholz war krank gewesen. Fritzi und sie hatten gewusst, dass dieser Moment zu erwarten war. Jetzt ist er da.

Fritzi erstarrt, weicht einen Schritt zurück. Sie bleibt stehen, atemlos.

Schnitt.

Ein hohes Bogenfenster, einen Moment glauben wir, ein Kirchenfenster zu sehen, weisses Licht strömt herein. Alte dicke Fensterlaibung, die anstoßende Wand holzverschalt. Alle Falllinien diagonal, wir sehen den Raum, als würden wir liegen. Vor dem silberweissen Licht des Kirchenfensters ragt schwarz hoch und schlank die Silhouette einer jungen Frau auf. Sie wirkt wie eine Erscheinung.

Die Perspektive dreht, so, als würden wir uns langsam aufsetzen, die Falllinien rücken immer weiter in die Vertikale.

Schnitt. Gegenschuß auf eine Liege. Wir sind in Melchiors Wohnung. Unter grüner Filzdecke liegt – im Unterhemd - Harry. Er schläft. Seine Gesicht glänzt, das Hemd ist bis auf Magenhöhe durchgeschwitzt, er wälzt sich unruhig.

Vor seinem Bett steht ein Mensch im Mantel und sieht auf ihn hinunter. Wir sehen durch Harrys Augen nur die Hand einer jungen Frau, die schüchtern ihren eigenen Arm festhält.

Close up Harry.
Wir begreifen: er hört eine Stimme. Eine junge Frauenstimme sagt fragend:

Harry?

Es ist die Stimme von Lotte, Harrys Schwester, und es ist die zarte Silhouette von Lotte.

Lotte, die ihn damals in der DDR aus dem Staatsgefängnis geholt hatte, die er mit allen Fasern seines Seins vermisst, für deren Rückkunft er seit Monaten bis zur Erschöpfung Tag und Nacht arbeitet, gräbt, einen hundertfünfundvierzig Meter langen Tunnel gräbt, für deren Rückkunft in seine Nähe er am Existenzminimum lebt, steht plötzlich hier in der alten Küche neben seinem Lager - und ruft ihn.

Das ist unmöglich.

Lotte kann nicht hier sein, sie ist doch im Osten.

Harry´s Bewusstsein hat das begriffen. Trotzdem steht sie hier.

Sein Oberkörper schnellt hoch, er stößt einen Schreckenslaut aus. Wieder sehen wir durch seine Augen.
Die Silhouette hat sich ein wenig verändert. Lottes Locken sind nicht mehr zu sehen, statt dessen eine Kurzhaarfrisur.

Licht von vorn erhellt das Gesicht.
Es ist Fritzi mit ihren schwarzen Augen und ihrem alten Pfeffer-und Salz-Tweedmantel.

Schnitt auf Harry. Er atmet schwer, ist total schweissdurchnäßt, wie nach einem Alptraum. Fritzi blickt er an, ängstlich, wie eine völlig Fremde, einen Eindringling. Fritzi wirkt ein bisschen erschrocken.

Jetzt ist Harry wach. Ort und Zeit. Die Zeit, der Zeitpunkt, abends, ist in sein Bewusstsein zurückgekehrt. Er reißt den linken Arm vor seine Augen und liest die Uhrzeit von seiner Armbanduhr ab. Er weiss wieder wo er steht.

Der Griff an seinen Kopf ist noch ein wenig ungesteuert, er beginnt, die ganze Situation zu begreifen, stammelt:

Entschuldigung.

In atemlosen Flüsterton:

Ich dacht´... Du bist..... ... meine Schwester.

Fritzi setzt sich ohne Umstände auf die Liege, mit dem Rücken zu Harry. Harry atmet immer noch schwer, Schweißperlen stehen auf seinen Wangen. Er muss innerlich sehr weit weg gewesen sein.

Ein leicht verunsicherter Blick geht von ihm zu Fritzis Hinterkopf. Sie sitzt dicht vor ihm.

Er lässt sich mit einem großen Aufatmen auf die Liege zurückfallen.

Wischt sich mit den hohlen Händen den Schweiß vom Gesicht. Fritzi sieht ihm zu. Close up Fritzi.

Leise, fast stimmlos.

Ich hab´nie ´n Bruder gehabt...

..wollt´immer gerne wissen, wie des is...

Fritzi´s Kraft scheint ganz verebbt, wie die Bewegung eines Pendels zum Stillstand kommt, wenn er alle Energie ausgeschwungen hat.

Wir können ihre Stimme fast nicht mehr hören...

...so´n Bruder.....

Harry reibt sich noch einmal über´s Gesicht, als wolle er den Blutfluss in seine Haut zurückholen.

...Bruder...

sagt er..

leise..

..Bruder macht viel Arbeit....

Fritzi lässt sich umkippen, mit dem Rücken zu Harry, nimmt sie sich ein Stückchen seines Kopfkissens und sinkt im Mantel auf die Liege. Zusammengekrümmt, wie ein Embryo im Mutterleib.

Harry macht ihr ein bisschen Platz.

Er lauscht.

Keine Bewegung. Fritzi liegt still da, Harry wartet, lauscht.

Dann ein Blick von ihm nach ihr. Er merkt, dass bei ihr etwas nicht in Ordnung ist. Close up Fritzis Gesicht.

Nichts geschieht.

Nichts Auffälliges.

Nur eine Träne.

Sie ist plötzlich auf dem Kissen unter Fritzi´s Gesicht.

Harry, leise:

Sehnsucht nach Heiner?

Fritzi reagiert nicht unmittelbar. Pause. Wir warten. Dann.

Leise, verweint:

Meine Mama ist tot.

Harry versteht.

Zwielicht. Der Bildausschnitt sieht aus, als läge Harry in einem engen Raum, wie in einem Sarg. Sein Gesicht im Halbdunkel, das Hemd leuchtet weiss.

Fritzi flüstert:

Hat sich nen Kaffee gemacht........ und is einfach umgekippt. ...

Pause.

Dunkelheit.

Was kann er tun? Zumindest kann er seine Hand ein bisschen auf ihren Rücken legen. Die Wärme, der kleine Kontakt, - tröstet.

–vielleicht.

Schnitt.

Ende der Szene.

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2000 - 2001 Heino Ferch (im Alter von 37) – Der Fluchthelfer Harry Melchior (fiktive Figur nach dem Leben des Fluchthelfers Hasso Herschel), Nicolette Krebitz – Fritzi Scholz, Alexandra Maria Lara – Lotte Lohmann, Harry Melchior´s Schwester.

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offofftopic. ganz was anderes: bei uns als Hinweis:

Topschauspieler Ulrich Tukur endlich mal in einem langen Interview-Divertimento mit SWR1 Leute anläßlich der Premiere von "Ein fliehendes Pferd " nach Martin Walser und von "Die Seerose im Speisesaal " Geschichten aus Venedig.

Warum bei uns immer wieder nur Ferch Ferch Ferch, warum nicht auch mal Tukur? Tukur ist ein Beschenkter, der mit federleichtem Schritt, ein Sohn der Lüfte, einen Funken Selbstironie an der Schläfe mit glänzender Sprachkraft alles Nötige an sich heranzieht, ein Schauspiel-Midas, der in Gold verwandelt, was er berührt.
Ferch ist dagegen ein Berserker, der aus der Tiefe emporbrodelt, ein Gestalter who is rolling around in the mud, bis der Schlamm Gestalt annimmt, Tukur berührt ab und an mit unangestrengter Geste den tiefen Grund, Ferch gestaltet aus der Tiefe dunkler Gefühle heraus nach oben ins Licht. Wenn Tukur ein Leonardo ist, ist Ferch ein Michelangelo.

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Kommentar: Namensbezüge: Roland Suso Richter gibt Fritzi den Namen Scholz. Leicht läßt sich , auch zusammen mit der Motiv der Berliner Kneipe "The Boxer" erkennen, dass Richter den Namen Scholz hier als Cameo-Anspielung auf seinen Film "Die Bubi-Scholz-Story" verwendet.

Eine ähnliche Bezugnahme legt der Name Lotte für Harry´s Schwester nahe, der - spinnen wir fort und fort - evtl. von HF angeregt sein könnte. Harry Melchior war Deutscher Meister im Schwimmen. HF, - Bremerhaver- , persönlich kannte laut Interviewaussage Jacques Cousteau und Hans Hass von Kindheit an. Mit Schwimmen hatten Harry Melchior und Hans Hass natürlich in ihrem Beruf, ihrer Berufung, zu tun.

Auch die Ehefrau von Hans Hass war immer aktiv mit dabei, es gibt sensationelle Unterwasseraufnahmen von ihr, wie sie die Schwanzflosse eines Pottwals berührt oder auf einem Stachelrochen reitet.

Der Name der Lebens-Gefährtin von Hans Hass...Na?... Genau:

Lotte. Lotte Hass



Originalbildquelle Radiobremen ->



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offoffoff topic und dann doch immer wieder die Frage warum? warum das Projekt "Filmszenen"? - Neugier! gelernt von Professor Dr. Hermann Bauer meinem Prof. - höchste Intellektualität und tiefe Menschlichkeit. - Sie dürfen das Zitat das Sie unter dem Link finden, gerne auf das Projekt Filmszenen übertragen....

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