"...das sind Beerdigungsblumen!" in: Der Tunnel. Regie: Roland Suso Richter, Drehbuch: Johannes W. Betz, teamworxx 2000
Bildquelle und Bildrechte bei teamworx Filmproduktionsgesellschaft
Text: ignazwrobel
Kaffee und Kuchen.
Aus: Der Tunnel.
Regie: Roland Suso Richter, Drehbuch: Johannes W. Betz, teamworxx 2000
Eine Gruppe von Menschen gräbt 1961 kurz nach Schließung der Mauer von West nach Ost einen Tunnel unter der Berliner Mauer hindurch, um ihren Freunden, Familien und Verwandten die „Republikflucht“ in den Westen der Stadt zu ermöglichen.
Harry ist der Spiritus Rector des Unternehmens, Fritzi, die einzige Frau im Team, gräbt mit, weil sie ihren Verlobten Heiner in den Westen holen will.
Vor der Szene:
Während der Grabungsarbeiten war im ungesicherten Tunnel die Decke eingestürzt und hatte Harry unter sich begraben. Fritzi Scholz war als erste bei Harry gewesen und hatte erfolgreich Erste Hilfe geleistet.
Die Szene:
An der Wohnungstür:
Dunkles Treppenhaus, alles dröge, abgeschabt, verwohnt, alt, deprimierend, grau in grau, Halbdunkel.
Close up auf eine Hand, die einen alten großen Messing-Klingelknopf bedient.
Dann sehen wir Harry. Er hat sich ordentlich angezogen, weisses Hemd, hellbraune Lederjacke, lose gebundene Krawatte. Im Hintergrund eine Putzfrau, die das Treppenhaus wischt und neugierig herüberlauert.
Close up auf Harrys Hände, die das Einwickelpapier von einem Blumenstrauss entfernen.
Von drinnen hören wir eine Frauenstimme rufen:
Ich geh schon, Mama.
Wir sehen über Harrys Schulter auf das Türschild.
SCHOLZ steht da.
Fritzi öffnet.
Noch einmal sehen wir Harrys Gesicht.
Er hat Spuren von Verletzungen an Stirn und Nasenrücken, wirkt jedoch ordentlich gekämmt, gewaschen, aufgeräumt.
Der Duft von Rasierwasser scheint ihn zu umschweben.
Als Fritzi schneller als erwartet öffnet und mit einer entstellenden Brillenschlangenbrille auf der Nase in der Tür steht, ist er ein wenig erschrocken.
Beide starren sich einen Augenblick an, dann sagt er verbindlich:
Hallo.
Fritzi läßt schamhaft schnell die Brillenschlangenbrille verschwinden.
Hallo.. haben wir nicht gesagt, wir machen heute frei?
Schnitt auf Harry. Im Hintergrund schaut die Putzfrau interessiert zu und hört mit.
Fritzi sieht das und schließt vorsichtshalber die Tür soweit, dass kein Blick in das Innere der Wohnung möglich ist.
Harry:
Ja schon.
Sein Blick irrt kurz unsicher ab. Er druckst:
Ich... also....
Du..
Während er spricht, weicht er Fritzis Blick aus, guckt unsicher zu Boden, zur Seite...sein Text ist ihm sichtlich unangenehm. Ein solcher Dankesvorstoß gehört nicht in sein Selbstbild.
Na ja, du hast mir ja neulich – sozusagen – das Leben gerettet....
Ich dachte mir...
Danke. sagt er leise und abschließend.
Wir sehen jetzt über seine Schulter hinweg wieder Fritzi. Harry hat den Blumenstauß angehoben und präsentiert ihn. Fritzi ist nicht erfreut. Sie beäugt die Blumen fast enttäuscht. Dann nimmt sie sie doch, mit einem Anflug von Lächeln.
Das sind Beerdigungsblumen.
- Ach, der arme Harry! Offizielle Gesten des guten Tons sind nicht seine Sache. Jetzt hat er sich schon zu der Blumengeste überwunden und nun sind´s die falschen. -
Aus dem Hintergrund hören wir die Stimme der Mama.
Wer ist es denn?
Sekunden später steht die zierliche Mama neben Fritzi in der Tür. Sie sieht die Blumen, den stattlichen Mann und ist erfreut, ja begeistert.
Harry grüßt, unruhig von einem Fuss auf den andern tretend : Tag...
Ah, dass ist also der Heiner, was? Haben Sie´s geschafft!
Harry nickt.
Na Jott sei Dank. Zu Fritzi: Na, drück den Jung doch mal!
Harry sichert mit hinüberklickenden Blicken zu Fritzi, er beginnt zu ahnen: hier liegt eine Verwechslung vor.
Fritzi nutzt die kurze Umarmung, um Harry zuzuflüstern:
Bitte!
Sie möchte gerne, dass Harry das Spiel für ihre Mutter mitspielt. Sie will die Mama nicht enttäuschen.
Jetzt probiert sie es:
Heiner, das ist meine Mutter. Mama, das ist Heiner.
Frau Scholz strahlt Harry an, wiederholt jetzt, nach dem offiziellen Miteinander – Bekanntmachen noch einmal ihren Gruss, Harry, immer noch nicht sehr wortreich, ebenfalls, „...tach..." gibt brav die Hand.
Na, kommse rein!
Frau Scholz tritt in die Wohnung zurück, um Harry/Heiner zum hereinkommen zu animieren.
Harry drückt sich an Fritzi vorbei durch die enge Türöffnung in die Wohnung, Fritzi schaut ihn hoffnungsfroh und freundlich an.
Schnitt
Szene im Wohnzimmer.
Harry sitzt bereits am Kaffeetisch, Fritzi versorgt die Blumen, die Mama ist in der Küche, um Kaffee zu kochen.
Harry war genötigt worden die Jacke abzulegen, er sitzt im Hemd, die Ärmel halb hochgekrempelt.
Der Raum ist dunkel, muffig, omahaft eingerichtet. Weisse Tischdecke, das feine Geschirr Rosenthal Goldrand ist aufgedeckt, Kristallplatte mit Bröselkuchenstücken.
Was soll denn das ganze Theater, ich wollte mich doch nur bedanken...flüstert Harry.
Fritzi Seit Wochen redet die von nichts anderem mehr. Heiner hier, Heiner da, das ganze Haus weiss schon Bescheid. ( – Drum hat die Putzfrau so neugierig geguckt!)
Fritzi hat sich zu Harry an den Tisch gesetzt. Harry beugt sich angespannt vor:
Also gut, dann spiel ich den ganzen Abend Heiner – aber nur wenn wir tanzen gehen.
Fritzi erschrickt – ich kann überhaupt nicht tanzen. Harry wischt ihre Antwort mit einer Geste vom Tisch:
Is mir piepegal.
Frau Scholz kommt mit der Kaffeekanne herein.
So, echter Bohnenkaffee.
Harry lauert gestreßt zu Fritzi hinüber, die tut beschäftigt, gießt Milch in die Tassen.
Jetzt kommt Frau Scholz auf den Punkt:
Na sagense mal – wie ham se nun die Grenzer gefoppt?
Harry rührt im Kaffee, starrt Frau Scholz fast entgeistert an. Während er den Kaffeelöffel aus der Tasse nimmt und in den Mund steckt, um ihn abzutrocknen, hat er einen letzten Augenblick Zeit, sich etwas auszudenken.
Man sieht, wie es in ihm arbeitet, sein Blick klickt zur Seite, nach unten... Eine Stegreif-Geschichte ist fällig.
Er räuspert sich kurz: Großglienicke.
Frau Scholz hört aufmerksam zu, Fritzi sieht aus wie ein Schulmädchen, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Da is nur Stacheldraht! .. jeehde Menge Stacheldraht... er findet sich in seine Geschichte hinein.... und daah.. bin ich hängengeblieben.... eine sorgengefaltete Stirn und große Gesten unterstreichen seine Story.
..mein Jott – und die haben nischt jemerkt?
Harry sichert wieder zu Fritzi. Die sitzt unbeweglich. Er beobachtet zufrieden die Wirkung seiner Extemporale auf Frau Scholz.
Doch doch, die sind sofort dagewesen.. aber auf der Westseite – da waren ein paar Jungs und die ham mich reingezogen.
Harry zieht mit den Händen demonstrierend durch die Luft.
Frau Scholz ist schockiert, Fritzi äusserst zufrieden. Sie greift lächelnd nach dem Kuchen. Geschafft. Mit äußerst höflichem auffordernden Blick bietet sie Harry die Kristallplatte an.
Der nimmt ein Stück.
Frau Scholz:
O Gott, dat hätt ins Auge gehen können – will nich wissen was die mit Ihnen jemacht hättn.
Die hätten mich verhaftet, dann hätten se mich wahrscheinlich geschlagen.
Ins Gesicht.
Harry kaut erregt.
Uff de Arme.....er deutet auf seine Arme.
Dann beugt er sich vor :
Wahrscheinlich hättense mir nur blaue Flecke geschlagen..aber die tun höllisch weh !
Frau Scholz ist betreten, Fritzi beginnt, entsetzt zu sein. Ihr Heiner ist ja noch drüben.
Dann geht’s zum SSD: Einzelhaft.
Keine Heizung. Keine Decken.
Aber jede Menge Licht. ....jeeede Menge Licht.
Harry ist jetzt voll in Fahrt. Er redet laut, drängend .
..und alle vier Stunden zum Verhör. Westkontakte.
Ja?
Nein?
Ja?!
Nein?!
Close up auf Fritzi. Die sieht grübelnd betreten nach unten.
Sie nimmt Harrys Geschichte schon nicht mehr als Märchen, sie denkt an ihren Heiner. Dann hebt sie den Blick. Ihre Augenlider flackern. Sie beginnt zu begreifen, dass Harry hier nichts erfindet, dass er Erlebtes berichtet.
Die Kamera fährt näher an Harry, wir sind einen Viertelschritt vor ihm . Er hat sich weit vorgebeugt, über den Tisch.
Dann fangen sie wieder an zu schlagen! Aber diesmal viel brutaler!
Seine Geschichte beginnt mit ihm durchzugehen..
Nase gebrochen.
Arme gebrochen.
Kopfwunden.
Er schaut zu Fritzi, jetzt sichert er nicht mehr. Er ist nur noch jemand, der erzählt, er sucht Blickkontakt zu seinem Zuhörer.
Fritzi kann dem Blick nicht standhalten und senkt den Kopf. Ihr geht die Geschichte schon viel zu weit.
Wir sehen Frau Scholz ins Gesicht. In ihren Augen spiegelt sich schmerzliche Sorge. Sie ist sehr betreten, die dunklen Pupillen ihrer Rehaugen glänzen.
Aber das ist noch nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste ist, dass Du höllisch aufpasst, dass Du keine Lungenentzündung bekommst.
Very Close up auf Harrys Gesicht. Das ist fast völlig verschattet, Streiflicht über seiner Silhouette, er sieht Frau Scholz intensiv an.
Er beisst von seinem Kuchen ab. und... er will noch etwas erläutern.
Ohne, dass er es beabsichtigt, verliert er den Blickkontakt zu seinem Gegenüber.
Er kaut. ..und..
das zweite ..und.. flüstert er nur noch vor sich hin, er kaut weiter.
Er hat den Kontakt in dieses Zimmer verloren.
Wir warten.
Sein Blick sackt nach unten, sieht nichts Konkretes.
Die Längsfalte zwischen seinen Augen vertieft sich.
Seine schwarze Pupille ist auf einmal matter, glanzloser, die Wangen sind erschlafft, er wirkt müde, erschöpft, traurig.
Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern
..wann Du endlich...
..wann Du endlich..
er kaut
...wieder schlafen kannst.
Er würgt er den Bissen hinunter, beisst wieder mechanisch vom Kuchen ab, kaut vor sich hin. Er ist ganz für sich, in seiner Erinnerung.
Die beiden Frauen hat er vergessen.
Sie sind unfreiwillig Zeugen eines sehr persönlichen Moments.
Jetzt wacht er auf - erschrickt ein wenig über die Stimmung im Raum, sein Blick irrt unstet zu Fritzi, die spiegelt ihm Betretenheit.
Sie hat die Schultern hochgezogen und es scheint fast, als hielte sie die Luft an.
Er ist wieder ganz da, kehrt in seine Abenteuer- Erzählerrolle zurück.
Ja, aber sie haben mich ja nicht erwischt!
Großes Aufatmen von Frau Scholz.
Na - zum Glück aber auch!
Frau Scholz löst ihre Anspannung erfreut und mit großer Erleichterung.
Ende der Szene.
Standfoto an der Wohnungstür
2000 Heino Ferch (im Alter von 37) – Harry Melchior, Fritzi Scholz – Nicolette Krebitz, Mama Scholz – Ruth Glöss
Kommentar:
Das graduelle Abgleiten vom eifrigen Stegreiferzähler zum Bild eines Mannes, der unfreiwillig zeigt, dass er gefoltert wurde, die Echos in den Gesichtern von Fritzi und Frau Scholz – das ist eine Oberfläche, unter der Heino Ferch für uns zwischen den gesprochenen Worten durch seine Darstellung einen dunklen Raum öffnet, in den wir angstvoll ahnend und besorgt hineinzuhorchen gezwungen werden.
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