Donnerstag, September 01, 2005

"...da drüben stirbt gerade ein Kind." Szene aus: Winterschläfer. Ein Liebesthriller. Regie Tom Tykwer, Drehbuch: Krzysztof Kieslowski , 1997.


Behandlungszimmer.


Zusammenhang:


Wir wurden Zeuge, wie ein Kind in einen schweren Unfall verwickelt wurde, nun in sehr kritischem Zustand im Krankenhaus liegt. Wir bangen zusammen mit dem Vater des Kindes, der den Unfall verursacht hat, um sein Leben. Es steht nicht gut.


Wir verfolgen auch die Geschichte von Marco Skilehrer, der sich mit einer seiner Skischülerinnen in der Villa seines verreisten Arbeitgebers vergnügt hat.

Beim unerfahrenen und deshalb ungeschickten Bedienen einer Espressomaschine hatte er sich am plötzlich austretenden heissen Dampf am Hals verletzt - genau an der Stelle über der Halsschlagader, hat er eine nicht ungefährliche Verbrühung.


Szene (Erzählung aus dem Gedächtnis): Im Behandlungszimmer.


Ein seltsam stilles, unbevölkertes Krankenhaus, ein halbdunkles Behandlungszimmer.


Marco sitzt auf dem Behandlungsstuhl.


Er muss die infizierte und verschmutzte Wunde am Hals, genau über seiner Lebensader, versorgen lassen.


Laura, in deren Haus er kurzerhand, ohne zu fragen, zu ihr und seiner Freundin Rebecca eingezogen war, ist Krankenschwester.


Sie übernimmt die Behandlung von Marcos Wunde.


Sie hantiert direkt an seinem Hals, steht ganz dicht vor ihm.


Die Wunde ist in keinem guten Zustand.


Marco bemerkt , jetzt, da er selbst verletzt ist, zum ersten Mal im Film,- in seinem Leben? - die Befindlichkeit eines anderen Menschen. Er fragt:


Was ist los?


Laura: Wieso?


Marco: Du siehst schlecht aus.


Laura: ...da drüben stirbt gerade ein Kind.



Laura versorgt die Wunde mit einem großen weissen Mullverband.


Beide gehen in das Zimmer, in dem das sterbende Kind im Koma liegt- Laura hat dort zu tun.


Marco setzt sich auf einem Stuhl an der Tür.


Er sagt, er hat noch nie so etwas gesehen.

Er zeigt keine sichtbare Betroffenheit, als er das Kind sieht, eher eine akademische Auseinandersetzung mit dem Thema Tod.


Er sagt:


Vielleicht ist es nicht wichtig, wie lange man gelebt hat.

Vielleicht ist es wichtig, wenigstens drei schöne Jahre gehabt zu haben.


Marco weiss nicht, dass er gerade das Resumee seines eigenen Lebens gezogen hat. Wenige Stunden später fährt er bei einer gehetzten kopflosen Tiefschneeabfahrt vom Gletscher in eine Nebelbank.

Er wird die Abbruchkante nicht sehen, über die er in die Tiefe stürzen und nach einem ewig sich hinziehenden Todesflug in einer Gletscherspalte den Tod finden wird.


1997 Marco - Heino Ferch, Laura – Marie-Lou Sellem Biografie

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Kommentare:


film-dienst 21/1997:

Ein Generationenporträt,
das um Lebensangst
und die Suche nach einer befriedigenden Existenzform kreist
und durch erzählerische Wucht
und formale Brillanz
ebenso fasziniert,
wie durch die wachen Reflexionen
über deutsche Befindlichkeiten.


Der Mut, den Orientierungsverlust
einer radikalen Individualisierung zu thematisieren
und die durchgehaltene Ambivalenz seiner Figuren
hebt den Film
deutlich von vergleichbaren Werken ab.


(Schwerer Satz, einfach nochmal lesen.)


TV Spielfilm 22/1997:

Kino für Geduldige und Genießer - geschickt erzählt und hochelegant inszeniert.


TV Today 22/1997:

Ein mit Widerhaken gespicktes Melodram:
still, melancholisch
und enorm intensiv
erzählt.


Cinema 11/1997:
Ein irritierend schöner Film
über den Tod und die Liebe:
Tom Tykwer erzählt von fünf Menschen
in einem verschneiten Bergkaff,
deren Lebensläufe er schicksalhaft verknüpft.


Kommentar:

Marco Skilehrer wirkt unglaublich jung, er starrt meist vor sich hin, oder betäubt sich per Beischlaf, er leidet an einer ihn und uns irritierenden Ziellosigkeit.

Faszinierend ist ein Vergleich mit anderen Figuren, die der Schauspieler im gleichen Jahr, 1997 verkörpert. Roman Cycowski in Comedian Harmonists: reif, ruhig, stabil, innerlich reich, sehr männlich, aufgeräumt,

der Anwalt Nick in der gelungen Komödie 2 Frauen 2 Männer.... , überheblich, eiskalt zuerst, mit einem eisigen genervten Hassblick, unsympathisch bis zum Umfallen, der uns ganz klein mit Hut unter dem Teppich hinauskrabbeln lässt. Die Kehrseite der Medaille: Nick ist hysterisch zwanghaft und hat - für uns Zuschauer zum Totlachen lustig inszenierte - Phobien, vor Wasser, vor Höhe, die ihn völlig lächerlich und unsouverän wirken lassen.


Oder die Figur des sexuellen Psychopathen Marc Bittner, in der kompakten, konzentrierten, sorgfältig und schlüssig inszenierten TV-Story "Der Schutzengel", ein Gesellenstück, eine Meisterarbeit.

Vor unserem staunenden Auge breitet der Schauspieler ein Portfolio von blitzartig wechselnden Persönlichkeitsfacetten aus, vom völlig hilflosen Kind über den leicht schüchternen Stotterer bis zum größenwahnsinnigen Intellektuellen, dicht, mit- und hinreissend, eine messerscharf analysierende hinterhältige tückische Psyche.


Und dann Hans Lederer in "Es geschah am hellichten Tag", ein naiver Mann, hinkend, nicht sehr intelligent, simpel, einfach, naiv, wehrlos, sprachlos, geschlagen, zu Tode gequält.

Das sind jedes Mal vollständig andere Menschen.
Sie ähneln Marco nicht einmal äusserlich.
Sie ticken anders, haben andere Seelen, einen anderen Atem, andere Gehirne.