"Da drüben stirbt ein Mann...!" aus: Der Tunnel, Regie: Roland Suso Richter, Drehbuch: Johannes W. Betz, 2000
R. S. Richter sagte über diese Szene:
Es ist wie militärisches Erobern einer Szene, es ist wie eine Schlacht schlagen.
Es ging um die furchtbare Szene an der Mauer, wo Heiner, der Freund von Fritzi versucht, von der Ost- auf die Westseite zu fliehen, über die eben gebaute Mauer, die er selbst aufgemauert hat, Stein für Stein - und nun daran sterben muss.
Wir müssen zusehen - was passiert mit uns?
Furchtbar, wie Fritzis Freund Heiner im Rollenstacheldraht hängen bleibt, stürzt, wie er schmerzverzerrt und weinend angeschossen zu Mauer hinkriecht, wie er dort wie tot liegt, nur die Augen leben noch,wie er ins Kindliche regrediert - und damit sein gänzliches unschuldiges Hineingeratensein in die mörderisch mahlende Regime-Maschinerie noch krasser herauskommt -
"aber ich muss doch zu Fritzi..."
O nein O nein. Wie Blei legt sich das auf die Nerven, die Haare stehen einem zu Berge, ich kann nicht mehr richtig durchatmen, ein Bleiklotz liegt auf meinem Brustkasten, etwas drängt in meiner Kehle hoch, ich fühle, wie sich die Muskeln in meinem Gesicht verzerren, und ich kriege immer noch keine Luft.
Fritzi bricht auf der anderen Mauerseite zusammen, wir sehen beide Leute von oben, zuerst, wie Fritzi, wie eine Maus in der Versuchsanordnung, kleine suchende Bewegungen nach links und rechts macht, wie um der Mauer auszuweichen, und dann am Boden kniet.
Sie umarmt die Mauer, eigentlich umarmt sie ihren sterbenden Freund, aber nicht er berührt ihre Arme, die Arme liegen auf der kalten, harten grauen Betonmauer auf.
Eindringlicher kann das Trennende dieser Mauer unmöglich gefilmt werden.
Tränen drängen sich uns hoch, aber das befreiende Weinen wird nicht gewährt. In dieser Seelenlage hält mich die Szene fest, immer so, dass die eigenen Tränen hinter den Augen stehen bleiben müssen und sich nicht entladen können.
Und dann der Mann hinter Fritzi auf der Westseite, Harry Melchior, der Macher.
Er tut absolut alles, was nur einen Hauch einer Möglichkeit in sich birgt. Er versucht Fritzi zunächst von der Mauer wegzureissen, vielleicht kann das den katastrophal an einen Abgrund marschierenden Vorgang abbrechen, er springt mit dem Oberkörper auf die Mauer auf, seine Augen sehen auch die andere Seite - Ost , er sieht dem angeschossenen Mann, er sieht für uns das Leid auf beiden Seiten.
Wir müssen seinen Stress fühlen, die Ohnmacht, diesen Willen, diesen unbedingten Willen, zu helfen, seine runden schwarzen Augen, in denen die Panik steht.
Er versucht neben Fritzi, mit dem Oberkörper auf der Mauerkrone, den Kopf zwischen zwei Stacheldrähten hindurchgewängt, Heiner von drüben herüberzuhelfen. Vergeblich natürlich, Heiner ist zu Tode getroffen.
Trotzdem streckt Harry ihm mit allem, was er physischer und psychischer Kraft aufbringen kann, die Hand entgegen - so weit er irgendwie kann - und versucht Heiner mit Zurufen zu aktivieren. ...bereits jenseits jeder Chance.
Als er abläßt, weil die Grenzposten schon zum dritten Mal gewarnt haben, er soll sofort von der Mauer herunter - er weiss wohl auch, dass der Posten nach dem dritten Zuruf feuern muss, - versucht er das einzige, was er jetzt noch für die beiden tun kann.
Die Menschenansammlung, die sich laut unterhält, bringt er mit dem Megafon eines Amerikanischen Grenzposten dazu, still zu sein, damit Fritzi ihren Freund auf der anderen Seite wenigstens hören kann. Er schreit
Da drüben stirbt ein Mann!
Dann endlich werden die Leute still. Alles, was hier in seiner Macht stand, war, die Leute herüben vom Lärmen abzuhalten- um Fritzi einen stillen Raum des Schweigens zu schaffen, in dem sie ihren Heiner auf irgend eine Weise wahrnehmen kann.
Und in diesem Schweigen, dieser Stille, die langsam in die klaustophobisch bedrückende Anmutung von unglaublicher Einsamkeit einer vereinzelten Person mutiert, sehen wir nur noch Fritzi, allein an der kalten grauen Mauer, ein junger atmender warmer lebensvoller Körper an der kalt toten Mauer.
Standfoto Auch auf der anderen Seite ein zweiter junger lebenswarmer Körper , schwach, zart gegen die unerbittliche Unausweichlichkeit des Betons, ein Körper, der seine letzten Atemzüge atmet.
Fritzi allein auf der Westseite. Sie ist an der Mauer heruntergesunken, kauert dort bewegungslos. Die Kamera fährt zurück in die Totale, wir müssen zurücktreten, den Ort des Geschehens verlassen , werden weggerissen.
Schnitt.
Fritzi- Nicolette Krebitz, Heiner- Florian Panzner,
Harry Melchior- Heino Ferch Goldene Kamera 2002 bester deutscher Schauspieler.
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